Es gibt Momente, in denen man spürt, dass sich etwas Grundlegendes verändert. Für mich ist dieser Moment jetzt gekommen. Ich beschäftige mich seit Jahren mit den Entwicklungen im digitalen Handel, aber selten habe ich so deutlich gesehen, dass wir vor einem Paradigmenwechsel stehen. Das Schlagwort lautet Agentic Commerce. Auf den ersten Blick klingt es nach einem dieser Tech-Begriffe, die man einmal hört und schnell wieder vergisst. Doch wer genauer hinschaut, erkennt sofort: Hier beginnt eine Entwicklung, die das Einkaufen in den kommenden zehn Jahren radikal neu gestalten wird.
Agentic Commerce bedeutet nichts anderes, als dass Einkaufen von Maschinen im Auftrag der Menschen erledigt wird. Es geht darum, dass wir nicht mehr selbst klicken und auswählen, sondern dass unsere digitalen Agenten diese Arbeit übernehmen. Diese Agenten wissen, was wir mögen, welches Budget wir haben, welche Marken wir bevorzugen und welche Retouren wir gehasst haben. Sie handeln für uns, sie schließen Käufe ab, sie kommunizieren direkt mit den Händlersystemen.
Der aktuelle Stand – mehr als nur eine Vision
Vor wenigen Monaten hat OpenAI zusammen mit Stripe das sogenannte Agentic Commerce Protocol (ACP) vorgestellt. Damit können Händler ihre Produkte in einer Sprache beschreiben, die nicht nur für Menschen, sondern auch für Maschinen lesbar ist. Etsy ist bereits live, Shopify steht in den Startlöchern. Wer heute in ChatGPT nach einem Geschenk sucht, kann schon erste Bestellungen direkt im Gespräch auslösen. Kein Formular, kein Checkout, kein Login.
Was sich jetzt noch wie ein Experiment anfühlt, ist in Wahrheit die Öffnung einer Tür in eine neue Handelswelt. Hinter dieser Tür wartet eine Zukunft, in der der Checkout unsichtbar ist. Händler müssen sich nicht länger überlegen, ob der Kauf-Button grün oder blau sein sollte. Der Button existiert nicht mehr. Die Kaufentscheidung fällt unsichtbar, in Sekunden, und sie fällt dort, wo die Daten am besten vorbereitet sind.
Wer schreibt die Regeln dieses Spiels
Damit Agentic Commerce funktioniert, braucht es Standards und Regeln. Genau hier ist gerade ein Wettlauf im Gange. OpenAI und Stripe haben mit ACP einen offenen Protokollstandard geschaffen. Firmen wie Forter arbeiten an Vertrauensschichten, die sicherstellen sollen, dass Händler einem Agenten überhaupt trauen können. Ohne solche Trust Mechanismen würde niemand den Maschinen echte Zahlungstransaktionen überlassen.
Auf der Datenebene spielen Organisationen wie schema.org und GS1 eine Schlüsselrolle. Ihre Standards für Produktdaten, GTINs und digitale Links sind die eigentliche Währung dieser neuen Welt. Wer seine Produktinformationen nicht sauber aufbereitet, wird für Agenten unsichtbar bleiben.
Und schließlich kommt die Regulierung. Der EU AI Act und der Digital Markets Act definieren bereits, wie KI Systeme transparent arbeiten müssen und wie Plattformen mit Marktmacht sich verhalten dürfen. In Europa wird kein Agentic Commerce entstehen, der nicht klar nach diesen Spielregeln funktioniert.
Wie wir in fünf Jahren einkaufen werden
Wenn ich mir das Jahr 2030 vorstelle, sehe ich ein Einkaufen ohne Bildschirme. Menschen äußern ihre Wünsche mit Sprache. Ich sitze beim Frühstück und sage meinem Agenten, er soll bitte neue Laufschuhe besorgen. Der Agent weiß, welche Marke mir passt, welches Budget ich akzeptiere und dass ich sie spätestens bis zum Wochenende haben möchte. Er prüft Angebote, vergleicht Lieferzeiten, berücksichtigt Nachhaltigkeitsbewertungen und bestellt. Ich erhalte nur noch eine kurze Bestätigung.
Der Lebensmitteleinkauf läuft ähnlich. Ich gebe meinem Agenten Rahmenbedingungen wie Budget, Ernährungsziele oder Diätvorlieben. Daraus baut er einen Einkaufsplan, kauft bei den passenden Händlern ein und optimiert automatisch nach Preis, Verfügbarkeit und Lieferzeit.
Auch das Thema Reisen wird so ablaufen. Ich sage lediglich: Familienurlaub, Meer, maximal vier Stunden Flug, klimaneutral kompensiert. Der Agent erledigt die Buchung für Flüge, Hotel, Transfer und Versicherung. Ich muss nur noch bestätigen.
Im B2B Bereich werden Firmenagenten automatisch Büromaterialien nachbestellen, Preise verhandeln, Lieferzeiten prüfen und Nachhaltigkeit in die Entscheidung einfließen lassen.
Wie es in zehn Jahren aussehen könnte
Im Jahr 2035 wird Einkaufen kaum noch als bewusster Prozess wahrgenommen. Viele Käufe laufen unsichtbar im Hintergrund. Mein Agent sorgt dafür, dass immer genug Kaffee da ist, dass Ersatzteile rechtzeitig bestellt werden und dass Abos optimiert bleiben.
Die nächste Stufe wird sein, dass Agenten für uns verhandeln. Preise, Bundles und Lieferoptionen werden dynamisch zwischen Händler und Agent ausgehandelt. Händler werden keine starren Preislisten mehr veröffentlichen, sondern Regeln und Konditionen, die Agenten in Echtzeit auswerten und anwenden.
Auch die Einstiegspunkte ins Einkaufen verändern sich. Heute starten wir über Suchmaschinen oder Shop Webseiten. In zehn Jahren beginnen Käufe im Auto, in einer Augmented Reality Brille oder im Gespräch mit einem Haushaltsgerät. Die Transaktion bleibt dabei unsichtbar und wird im Hintergrund durch die Agenten abgeschlossen.
Chancen und Risiken für Händler
Für Händler sind die Chancen enorm. Conversion Rates steigen, weil alle Reibung verschwindet. Barrierefreiheit erreicht ein neues Niveau, weil Menschen mit Sprache einkaufen, ohne komplexe Oberflächen bedienen zu müssen. Wer seine Daten perfekt strukturiert, wird in den Rankings der Agenten bevorzugt erscheinen und profitiert damit massiv.
Doch es gibt auch Risiken. Händler verlieren womöglich den direkten Draht zum Kunden, wenn Agenten die Kommunikation übernehmen. Die Beziehung zwischen Marke und Mensch könnte von Maschinen gefiltert werden. Und wenn wenige große Anbieter von Agenten den Markt dominieren, entstehen neue Gatekeeper.
Die größte Herausforderung bleibt jedoch die Datenhygiene. Wer heute noch unsauberen Kataloge führt, wer GTINs vertauscht oder Varianten nicht klar beschreibt, wird schlicht unsichtbar im Agentic Commerce.
Was jetzt zu tun ist
Die wichtigste Aufgabe für Händler ist es, die eigene Datenbasis aufzuräumen. Produkte brauchen eindeutige Identifikatoren, klare Beschreibungen und maschinenlesbare Policies für Versand und Rückgabe. Wer das jetzt tut, schafft sich einen Vorsprung.
Darüber hinaus lohnt es sich, erste Tests mit dem Agentic Commerce Protocol zu starten. Einen kleinen Produktbestand damit anzubinden, Transaktionen auszuwerten und Erfahrungen zu sammeln, ist ein wichtiger Schritt. Gleichzeitig müssen Händler ihre Compliance Strategien vorbereiten. Transparenz, Logging und Einverständniserklärungen werden auch für maschinelle Käufe Pflicht.
Warum mich dieses Thema so packt
Für mich fühlt sich Agentic Commerce an wie Mobile Commerce im Jahr 2010. Damals hat kaum jemand ernsthaft geglaubt, dass Smartphones den Handel so dominieren würden. Heute wissen wir, wie radikal das den Markt verändert hat.
In fünf Jahren werden wir einen erheblichen Teil unserer Einkäufe Agenten überlassen. In zehn Jahren wird das Durchklicken von Checkouts wie ein Relikt vergangener Zeiten wirken. Shopping wird dann kein bewusster Prozess mehr sein, sondern ein permanenter Hintergrunddienst.
Und das Spannende ist: Wir stehen erst am Anfang. Wer jetzt Daten, Standards und Protokolle ernst nimmt, wer die neuen Gatekeeper versteht und gleichzeitig Wege findet, seine Unabhängigkeit zu sichern, der wird die kommenden Jahre prägen.
Die Zukunft des Handels wird nicht mehr geklickt. Sie wird ausgehandelt.